17. Juni 1953 – Vier mitteldeutsche Schicksale

Marktkirche

Heute vor 70 Jahren gab es einen Volksaufstand in der DDR. Was als Protest gegen die 10-prozentigen Normenerhöhungen für die Bauarbeiter begann, breitete sich rasend schnell aus. An über 700 Orten ging die Bevölkerung auf die Straße, darunter auch in Mitteldeutschland. Bei MDR aktuell schilderte ich in einer Reportage das Schicksal von vier Zeitzeugen des Volksaufstandes in Mitteldeutschland.

Die Leuna-Werke. Hier sind die Arbeiter bereits am frühen Morgen unterwegs . Im Radio erzählt später einer von ihnen, wie der Aufstand begann.

Bau 15 war es. Da fing es an, dass die Arbeiter meuterten. Durch Radfahrer, durch Arbeiter, die im Werk rumfuhren, erfuhren wir davon. Es wurde die gesamte Arbeiterschaft von den Leuna-Werken zum Verwaltungsgebäude bestellt. Und als wir vorkamen, da waren dort schon mindestens 20.000 Mann versammelt, die Leuna-Werke haben 28.000 Mann Belegschaft.

Unbekannter Leuna-Arbeiter

Auch die Arbeiter des Lokomotiv-und Waggonbaus Ammendorf – kurz LOWA – sind auf der Straße. 2.000 Werktätige von ihnen versammeln sich vor dem  Verwaltungsgebäude. Danach marschieren die Waggonbauer zehn Kilometer in die Innenstadt von Halle.

Am späten Vormittag sitzt Herbert Priew als Student in einer Vorlesung in der Uni der Stadt. Vor zehn Jahren schilderte er mir seine Erlebnisse am 17. Juni 1953:

Und da wurde dann erzählt: ‚Da ist was los in der Stadt.‘ Und da bin ich in die Stadt gegangen und da kamen die Arbeiter von der Waggonfabrik Ammendorf schon. Und da wurde ich erst gefragt ‚Was willst du denn hier?‘ und ‚Wer bist du?‘Und da haben wir uns einige Worte ausgetauscht. Und dann kam ein Arbeiter mit einer dicken Lederschürze, haute mir auf die Schulter und sagte ‚Heute nicht Arbeiter und Bauern, sondern heute Arbeiter und Studenten.‘

Herbert Priew, damals Student in Halle

Dort werden zur selben Zeit der Rat des Bezirkes und die SED-Stadtbezirksleitung von Demonstranten gestürmt. Am Reileck besetzen vier Studenten das Verkehrpostenhaus, denn hier gibt es eine Lautsprecheranlage. Herbert Priew ist einer von ihnen und wiederholt den Aufruf von damals, den sie über die Lautsprecher des Verkehrspostens viele Male hinausriefen:

Deutsche Männer, deutsche Frauen, wir demonstrieren heute Abend um 18:00 Uhr auf dem Hallmarkt für Frieden, Einheit und Freiheit. Erscheint in Massen. Verhaltet euch diszipliniert, denn nur so können wir was erreichen. Einheit macht stark.

Herbert Priew, damals Student in Halle

Wie Herbert Priew informieren immer mehr Einwohner der Stadt andere über die abendliche Versammlung. Meist geschieht dies über Flüsterpropaganda. Die Bürger und ein geheimes Streikkomitee arbeiten damit aktiv gegen die staatlichen Kräfte, die ebenfalls aufrüsten. Für die Hallenser Polizei gibt es einen allgemeinen Schießbefehl. Acht Menschen sterben am Nachmittag – keiner von ihnen gehört den staatlichen Organen an. Seit 16 Uhr ist der Ausnahmezustand verhängt. 17 Uhr: Zwei Panzer rollen auf den oberhalb des Hallmarktes gelegenen Markplatz. Doch die Hallenser lassen sich nicht einschüchtern. Historiker sprechen später von der wohl größten Kundgebung im Juni 1953 in der DDR. Herbert Priew ist mit dabei . Eigentlich hätte er etwas Besseres zu tun: Einen Monat dauert es noch, bis er sein Studium der Agrarwissenschaften abschließen könnte, doch am frühen Abend macht er sich zum Hallmarkt auf. Rückblickend weiß er genau, weshalb hier rund 60.000 Menschen erschienen sind.

Die Stimmung in Halle und auch in der Landwirtschaftlichen Fakultät war extrem,  durch die ganzen politischen Vorgaben, insbesondere bei den Landwirten der Kampf gegen die Großbauern, wie sie sich nannten und gegen die evangelische Studentengemeinde, die in der Landwirtschaftlichen Fakultät sehr stark vertreten war. Also, es war Dampf im Kessel.

Herbert Priew, damals Student in Halle

Das Streikkommitee hat die Steintribühne auf der Rückseite der Marktkirche für die Redner vorgesehen. Dabei wird eine von der SED bereits installierte Lautsprecheranlage einfach von den Aufständischen beschlagnahmt. Offenbar hatte man staatlicherseits damit gerechnet, um 18 Uhr die Lage unter Kontrolle zu haben. Doch das war nicht so. Unten auf dem Hallmarkt steht auch Herbert Priew.

Schon um 18 Uhr war der Hallmarkt voll und oben hatten sich auch schon Sprecher gezeigt. Also, wir waren alle gespannt, was jetzt hier gesagt wird.

Herbert Priew, damals Student in Halle

Es sind die Forderungen des Streikkommitees, die hier nochmals verkündet werden: Freie Wahlen, 40 Prozent weniger für Lebensmittel und Rücktritt der Regierung. Für den nächsten Tag wird zum Generalstreik aufgerufen.

Während die Demonstranten auf dem Hallmarkt sind, wird auf 1.500 Plakaten und mit 10.000 Flugblättern der Ausnahmezustand in Halle bekannt gegeben. Die beiden Panzer stehen weiter bedrohlich auf dem Markplatz. Herbert Priew erinnert sich.

Trotz dieser Panzer endete diese große Kundgebung mit der ersten Strophe des Deutschlandliedes. Und rechts und links konnte ich sehen, dass auch die Tränen rollten.

Herbert Priew, damals Student in Halle

Um 18:45 Uhr, zum Ende der Veranstaltung, rollen die Panzer auf den abwärts liegenden Hallmarkt und vertreiben die Demonstranten. Herbert Priew wird zu zwei Jahre Haft im sogenannten Roten Ochsen, dem Stasi-Gefängnis in Halle, verurteilt.

Ganz anders sind die Erlebnisse von Günter Kröber in der Nachbarstadt Leipzig. Er ist frisch gebackener Anwalt und sitzt seit 10 Uhr im Bezirksgericht in einer Hauptverhandlung. Plötzlich kommt ein Justizmitarbeiter in den Saal und flüstert dem Richter etwas zu, wie Kröber erzählt

Da stand der Vorsitzende auf und verkündete, dass die Hauptverhandlung unterbrochen wird. Es würden reaktionäre und provokatorische Kräfte sich den Justizgebäuden nähern über den Ring. Und aus diesem Grund wird die Hauptverhandlung unterbrochen. Das war so halb elf.

Günter Kröber, Rechtsanwalt

Günter Kröber entschließt sich daraufhin, in der innen liegenden Haftanstalt Mandanten zu besuchen. Doch schon bald wird er aufgefordert, das Justiz-Gelände an der Harkortstraße zu verlassen. Man würde die Mitarbeiter bewaffnen und er sei kein Waffenträger. Doch nun steht Kröber zwischen den Fronten.

Und dann hörte ich, wie mit irgendwelchen Gegenständen gegen die Tore gearbeitet wurde.

Günter Kröber, Rechtsanwalt

Der Anwalt hat Angst, dass man ihn für einen Richter oder Staatsbediensteten halten könnte. Doch er schafft es unter Mühen durch die Mensa hinaus auf die Straße. Doch dort wird er besonders begrüßt.

Und dort war inzwischen eine Riesen-Menschenmenge da. Und es kam ein schattiges Wesen auf mich zu, aber das war nicht etwa etwas Freundliches, sondern es waren Pflastersteine.

Günter Kröber, Rechtsanwalt

Günter Kröber entkommt der Menge und verteidigt in den nächsten Wochen sehr viele Angeklagte, die am 17. Juni 1953 auf die Straßen gegangen waren.

Hans Peeck ist 17 und erlebt den Aufstand in Weißenfels mit. Er kommt am frühen Nachmittag gerade aus der Berufsschule und muss an der Polizeistation im alten Kloster vorbei.

Und da waren schon sehr tumultartige Szenen. – Ja, da muss ich jetzt ein bisschen Luft holen dabei, weil dann auch Erinnerungen und alles wieder da sind.

Hans Peeck, damals Berufsschüler

Hans Peeck sieht, wie ein LKW mit Polizisten herankommt. Er sieht, wie man vergeblich versucht, in die Wache einzudringen. Und dann schließt er sich den Aufständischen an. Man will gemeinsam mit anderen Gruppen zum Markt vordringen, um da zu demonstrieren. Insgesamt sind in Weißenfels 5.000 Menschen auf den Beinen.

Von der unteren Saalstraße kamen die großen Männer von der Kettenschmiede. So richtige Hünen mit ihren Schürzen. Und das hat uns natürlich beflügelt, auch ein paar Leute dabei zu haben, die etwas körperlich auch darstellten.

Hans Peeck, damals Berufsschüler

Weiter geht es Richtung Markt.

Und dann kamen wie aus heiterem Himmel sowjetische Soldaten uns gegenüber, mit aufgepflanzten Bajonetten. Und das hat uns alle – mich besonders – in eine Starre versetzt, die für mich heute noch nicht aufgelöst ist.

Hans Peeck, damals Berufsschüler

Hans Peeck wird die DDR später kurzzeitig verlassen, dann zu seiner Mutter zurückkehren, um verhaftet zu werden. Eineinhalb Jahre Zuchthaus. Später dann die endgültige Flucht in den Westen. Als Pferdezüchter mit einem Gestüt in Nordrhein-Westfalen hat er Erfolg. Inzwischen gibt es sogar einen nach ihm benannten Züchterpreis.

In Bitterfeld erlebt der 15-Jährige Klaus Staeck den Volksaufstand mit. Erstmals hört er am 17. Juni 1953 morgens in der Oberschule, dem heutigen Europa-Gymnasium, davon.

Die Lehrer wollten uns nicht rauslassen, natürlich. Stellten sich vor die Tür. Unsere Schule lag etwas günstig. Relativ erdgeschoss-artig, so dass man aus dem Fenster springen konnte.

Klaus Staeck, damals Oberschüler

Doch dieser Lausbubenstreich wird schnell zur Gefahr.

Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben um mein Leben gerannt, damals in den Binnengärten, als wir Schüsse hörten. Jetzt wird es irgendwie ernst.

Klaus Staeck, damals Oberschüler

Doch es ist mehr, was den Oberschüler an diesem Tag in Bitterfeld fasziniert.

Man sah, wie die Gefängnisse aufgemacht worden und ein Lastwagen mit Polizisten, der noch kam und das sichern wollte. Und die Bürger haben dann angefangen, einen Lastwagen zum Umkippen zu bringen, in dem sie immer auf der einen Seite gewackelt haben, auf der anderen… (unverständlich, aber passt in die Erzählung) habe ich noch nie gesehen.

Klaus Staeck, damals Oberschüler

30.000 Menschen versammeln sich in Bitterfeld. Einer von ihnen ist auch Klaus Staeck.

Es gab zwei Hauptredner, neben anderen: Das war einmal der Paul Ottmar, denn auch dafür nachher für 12 Jahre ins Gefängnis kommen sollte, elf einhalb Jahre hat er davon abgesessen. Eigentlich einer, der immer abgewiegelt hatte. Und ein zweiter war, an den ich mich erinnere, der Lehrer Fiebelkorn, der sofort begriff, abends, das geht hier nicht gut. Den nächsten Zug bestiegen und nach West-Berlin gefahren.

Klaus Staeck, damals Oberschüler

Der 17. Juni 1953 prägt den damaligen Oberschüler Klaus Staeck und er fasst es in einem Gespräch mit mir 2013 in einem Satz zusammen:

Ja, selten erlebt, dass man Freiheit so erleben kann. Auch wenn es nur für ein paar Stunden ist.

Klaus Staeck, damals Oberschüler

1956 verließ Klaus Staeck die DDR und zog nach Heidelberg in die Bundesrepublik. Er wurde Rechtsanwalt, Verleger und – vor allem – Grafiker. Von  2006 bis 2015 war Klaus Staeck Präsident der Akademie der Künste in Berlin.