17. Juni 1953 – Das Radio und der Aufstand

Egon Bahr war 1953 Chefredakteur beim RIAS und erzählt, wie es damals zu den Beitägen kam. (Foto: Voß)

Heute vor 70 Jahren gab es einen Volksaufstand in der DDR. Was als Protest gegen die 10-prozentigen Normenerhöhungen für die Bauarbeiter begann, breitete sich rasend schnell aus. An über 700 Orten ging die Bevölkerung auf die Straße. Wie konnte es dazu kommen? Wie wurden die Informationen weiterverbreitet? Für MDR aktuell sprach ich darüber mit Zeitzeugen des Aufstandes.

1953 gab es kein Internet, keine sozialen Medien. Das Fernsehen war gerade ein paar Monate alt: In der DDR sendete der Deutsche Fernsehfunk für rund 60 Geräten in Ost-Berlin. Neben den Zeitungen war das Radio das einzige Medium, was alle erreichen konnte – und es kam auch aus dem Westen über die Grenze.

RIAS, das Radio im amerikanischen Sektor, rief am Vortag des Aufstandes zweimal zum Streik in Ost-Berlin und der DDR auf. Das geschah unter der Verantwortung des Chefredakteurs Egon Bahr, dem späteren westdeutschen SPD-Politiker, Staatssekretär und Bundesminister. RIAS war von der US-amerikanischen Besatzungbehörde gegründet worden, wurde aber als US-Sender durch westdeutsche Journalisten geleitet.

Doch in Berlin hatten noch immer die Alliierten das Sagen, auch im Westen. Der US-Militärkommandant verbot weitere Streikaufrufe. Man dürfe sich nicht in den Osten einmischen. Egon Bahr gefiel das überhaupt nicht, erzählte mir der inzwischen verstorbene Politiker 2013. Und deshalb dachte er sich einen Trick aus, wie er die Alliierten umgehen konnte – und zwar mit Hilfe des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB:

Ich habe den damaligen Vorsitzenden des DGB angerufen und gebeten ins Haus zu kommen, ihm die Lage erklärt und ihn gebeten, einen kleinen Kommentar der Sympathie für die Aufständischen zu sprechen und dabei auch zu erwähnen sein Verständnis dafür, dass die sich morgen am Strausberger Platz treffen.

Egon Bahr, damals RIAS-Chefredakteur

Und so geschieht es: Diplomatisch geschickt verpackt sendet RIAS um 5 Uhr 36 das erste Mal den Kommentar von Ernst Scharnowski. Er ist Vorsitzender des West-Berliner DGB. Er begrüßt und bewundert die Proteste gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen und teilt die Befürchtungen der Arbeiter.

Liebe Ost-Berliner Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Gewerkschaftsbund betrachtet seit Monaten mit Sorge die soziale Rückentwicklung, die sich bei euch vollzieht.

Ernst Scharnowski, West-Berliner DGB-Vorsitzender (1953)

Die erste Zurückhaltung endet bald.

Ihr könnt diese Forderungen, gestützt auf die in der sowjetischen Besatzungszone geltenden menschlichen Grundrechte der Verfassung, mit vollem Recht verlangen.

Ernst Scharnowski, West-Berliner DGB-Vorsitzender (1953)

Und dann folgt die klare Aufforderung des DGB-Vorsitzenden an alle Berliner.

Lasst sie nicht allein. Sie alle kämpfen nicht nur für die sozialen Rechte der Arbeitnehmer, sondern für die allgemeinen Menschrechte der gesamten Ost-Berliner und Ost-Zonalen Bevölkerung. Tretet darum der Bewegung der Ost-Berliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf.

Ernst Scharnowski, West-Berliner DGB-Vorsitzender (1953)

Auf dem Strausberger Platz in Ost-Berlin versammeln sich seit den Morgenstunden des 17. Juni die Arbeiter von der Stalinallee zu Massenkundgebung. Im Westen weiß man davon noch nichs, denn eigene Journalisten dürfen nicht im anderen Teil der Stadt recherchieren.  RIAS-Chefredakteur Egon Bahr hatte mit seinen Kollegen die Nacht  im Sender im Westteil der Stadt verbracht.

Wir sind dann alle im Hause geblieben – unausgeschlafen und unrasiert – und haben zwei oder drei unserer amerikanischen Offiziere rübergeschickt in ihren Jeeps zum Strausberger Platz, um zu erfahren, ob da überhaupt jemand ist. Die kamen ganz schnell wieder und sagten: ,Es summt. Viele, viele Menschen‘.

Egon Bahr, damals RIAS-Chefredakteur

214 Kilometer weiter, in Görlitz, hört der Auszubildende Georg Walter Radio. RIAS ist hier nicht zu empfangen, aber Freies Berlin und ein britischer Sender. Er weiß deshalb genau, was in Berlin los ist.

So dass ich am 17. Juni morgens – ich war Lehrling im Bahnbetriebswerk in Görlitz – zur Arbeit ging und jemand erzählte – konnte ich aber nie recherchieren, ob es stimmte -, auf dem Obermarkt in Görlitz hätte ein toter Hund gehangen, und unter diesem toten Hund hätte Zettel mit der Aufschrift gehangen ‚Das war der erst Hund, der verreckt‘.

Georg Walter, damals Auszubildender

In der gesamten DDR spitzt sich die Lage zu. Radio Ost-Berlin meldet:

Ab 13 Uhr des 17. Juni 1953 wird im Sowjetischen Sektor von Berlin der Ausnahmezustand verhängt.

Radio Ost-Berlin

Auf dem Potsdamer Platz, direkt an der Grenze zu West-Berlin – brennt die Luft. Ein Reporter des RIAS ist live vor Ort.

Inzwischen ist der Potsdamer Platz von West-Berliner Polizisten abgesperrt worden. Aber die meisten Demonstranten haben sich in den Sowjetsektor hinübergezogen. Und während hier noch Transparente zu Boden fallen …. (Schüsse) …. beginnt soeben wieder ein heftiger Schusswechsel. Wie es scheint, von Maschinenpistolen. … (Schüsse) … Schwere sowjetische Panzer haben soeben die Leipziger Straße besetzt …. (Schüsse) …. und rollen weiter vor. Wir müssen ebenfalls zurückgehen und jetzt hinter einem Wagen Deckung nehmen. Und wir hören, wie die Kugeln an uns vorbeipeitschen. Sie gehen also nicht etwas in die Luft.

RIAS, 17.06.1953

In Görlitz, an der Grenze zu Polen, scheint die Situation für die Aufständischen dagegen gut zu sein. Hier wird die gesamte Stadtregierung abgesetzt und ein neuer Bürgermeister ins Amt eingeführt. Ingeborg König ist in der Stadt unterwegs und erzählt mir viele Jahre später.

Von dem Begräbnisinstitut Ullrich oder daneben war eine Lautsprecheranlage und da wurde dann ja auch als neuer Oberbürgermeister der Görlitzer Arzt Dr. Hütter ausgerufen.

Ingeborg König, erlebte als junge Frau den 17. Juni 1953 in Görlitz

Die Stasizentrale in Görlitz ist bereits gestürmt, politische Gefangene sind befreit. Georg Harnisch war damals 29 und erinnert sich in einem Gespräch, das wir 2013 führten:

Alle Betriebsgewerkschaftsvorsitzenden wurden in das Rathaus eingeladen, um mit ihnen Rücksprache zu halten. Auf einmal gingen die Türen zu und alle die dort waren, wurden verhaftet. Wir hatten einen BGL-Vorsitzenden, der hatte politisch keine große Meinung, aber er war BGL-Vorsitzender. Und das war schon sehr verdächtig, dass er eben das Vertrauen der Werktätigen hatte. Er hat auch mehrere Jahre in Bautzen zugebracht.

Georg Harnisch, erlebte den 17. Juni 1953 in Görlitz

In Görlitz läuft der Aufstand mittlerweile fast revolutionär geplant weiter. Es werden Gefangene aus der Haftanstalt freigelassen, doch mit System, wie Ilse Richter berichtet. Sie erlebte den Aufstand als junge Frau.

Das Gefängnis wurde von einem Rechtsanwalt bewacht. Also, das heißt, der ist da eingedrungen, hat die Papiere kontrolliert und hat alle politischen Gefangenen losgelassen. Und die wurden, weil sie ja nun auf der Straße standen, erstmal ins Hotel Stadt Dresden gebracht und da untergebracht.

Es gibt auch Verletzte  in Görlitz. Gunhilde Harnisch, damals Sekretärin im Krankenhaus, und ihre Freundin Ilse Richter unterhalten sich während des Reporterbesuches über Personen die dann in der Nacht noch die Stadt und die DDR verlassen mussten.

Der Oberarzt Frech, es wurde bekannt, dass er verhaftet werden sollte. Und der ist dann in der Nacht noch abgehauen nach West-Berlin.

Ja, und zwar, der hat… Es wurde ein junger Mann zu ihm gebracht, in die KIinik, und zwar natürlich von aufgebrachten Leuten, und die hatten ihn verprügelt, so verprügelt, dass er ärztlich versorgt werden musste. Und daraufhin musste das der Dr. Frech machen. Und der hat zu ihm gesagt: ‚Eigentlich gehörst du jetzt erst richtig verprügelt. Und ich muss dich hier zusammenflicken.

Ilse Richter und Gunhilde Harnisch, erlebten beide den 17. Juni 1953 in Görlitz

Der Patient sei  übrigens ein SED-Parteifunktionär gewesen.

Beim RIAS treffen die Meldungen aus der ganzen  DDR inzwischen auf anderen Wegen ein. Chefredakteur  Egon Bahr erinnert sich.

Wir haben unsere Meldungen bekommen von den Menschen, die aus Zone kamen und in den Sender kamen und uns berichtet haben, über das, was bei ihnen zuhause passiert war. Das heißt, wir haben punktuell ein Lagebild bekommen über das, was da passiert war.

Egon Bahr, damals RIAS-Chefredakteur

In Görlitz sieht es ähnlich aus. Die Demonstration im Stadtzentrum wird beendet. Ilse Richter erinnert sich daran.

Und abends zum 6 war deshalb Ruhe,  weil ja inzwischen da die Panzer gekommen waren, in die Nähe des Obermarktes, ich weiß nicht ganz genau, wo sie gestanden haben. Und ab 18 Uhr war es verboten, auf die Straße zu gehen. Und das dauerte etliche Tage. Sogar, dass die ganze Nacht Straßenverbot war. Von abends, ich weiß nicht mehr die Zeit, bis morgens um 6.

Ilse Richter, erlebte den 17. Juni 1953 in Görlitz

Georg Walter, damals Maschinenbaulehrling, später dann katholischer Pfarrer, wohnt genau gegenüber von der Stasi-Zentrale in Görlitz. Er und seine Familie wissen, sobald die Hunde gegenüber anschlagen, werden Menschen zum Verhör gebracht.

An diesem späten Abend, schon in der Dunkelheit, auch wieder dieses Hundebellen – und wir sahen Autos. Und es war das resignierte Gefühl, es ist gescheitert. Es ist aus.

Georg Walter, wohnte 1953 gegenüber von der Görlitzer Stasi-Zentrale

So wie Georg Walter geht es vielen Menschen an diesem Abend in der DDR. Die traurige Bilanz wird erst später bekannt: 55 Tote, 50 davon einfache Bürger und fünf Staatsvertreter.

Auch Egon Bahr musste damals mit Ansehen, wie der Aufstand scheitert. Der 17. Juni 1953 war für ihn immer ein wichtiges Datum der deutschen Geschichte.

Wenn es damals das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht nicht gegeben hätte, dann hätten wir damals schon die Einheit bekommen.

Egon Bahr, damals RIAS-Chefredakteur, handelte später den Grundlagenvertrag zwischen beiden Teilen Deutschlands aus

Bahr handelt später als Staatssekretär der Bundesrepublik zusammen mit Michael Kohl, dem Vertreter der DDR, den Grundlagenvertrag zwischen den beiden Teilen Deutschlands aus.