MDR INFO, 19.06.12
Bis vor ein paar Tagen folgte ihr 7.700 Nutzer auf Twitter, einem Kurzmeldungen-Portal im Internet. Inzwischen sind es über 20.000: Julia Probst ist Lippenleserin und übersetzt, was unsere Fußballer im auf dem Rasen so sagen, wenn sie denken, es höre niemand mit. Für MDR INFO stellte ich die gehörlose 30-Jährige vor.
Wir, als Radio, sind das denkbar schlechteste Medium – ausnahmsweise – um mit einer gehörlosen Lippenleserin ein Interview zu führen. Doch es geht: Das Interview für diesen Beitrag findet via E-Mail statt – und die Antworten werden vorgelesen.
Julia Probst ist das beste Beispiel dafür, dass taub nicht automatisch stumm und schon gar nicht sprachlos heißt. Bekannt wurde die 30-Jährige aus Neu-Ulm jetzt weltweit, weil sie den Fußballern bei der EM von den Lippen abliest – und damit das in Worte fasst, was sonst niemand hört. Was sagen die Fußballer denn überhaupt?
Ach, da hat Lahm Bender nach seinem Tor mit „Klasse gemacht!“ gelobt. So Kleinigkeiten halt. 🙂
Doch genau diese Kleinigkeiten fesseln die Leute. Ein paar Proben von der Twitter-Seite, die Julia Probst unter dem Namen EinAugenschmaus führt. Wer allerdings hofft, neue Schimpfwörter zu lernen, hofft vergeblich – da schweigt die Lippenleserin auch mal.
Den Bundestrainer zitiert sie mit
„Scheiße, Mensch!“, „Hoch, Lukas!“
Löw zu Boateng:
Was hast du…
Da setzt die Lippenleserin dann drei Punkte und schreibt höflich dahinter
unverständlich.
Die Deutsche Mannschaft hat es ihr angetan. Vor einigen Tagen twitterte sie nach einer Pressekonferenz des Bundestrainers:
„Was? Jogi wurde auf mich angesprochen? Ich mag ja mal gern die National-Elf treffen“
Hat es da inzwischen eine Einladung gegeben?
Nein, leider nicht. Aber vielleicht kommt das ja noch? Ich würde mich wirklich sehr freuen, da ich unsere Mannschaft schon sehr mag.
Einige Fußballer sind inzwischen vorsichtiger geworden. Sie sprechen nur noch mit vorgehaltener Hand auf dem Rasen – haben offenbar Angst davor, mit den Augen der Frau belauscht zu werden.
Doch das will Julia Probst eigentlich gar nicht erreichen, denn sie hat ganz andere Ziele. Sie will mit ihren Aktionen darauf aufmerksam machen, dass es viele Menschen mit Behinderungen gibt, die Internetseiten nicht nutzen können, weil sie zum Beispiel blind sind.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich zu der Politik durchdringe mit meinem Anliegen: Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen. Deutschland ist in diesen Dingen ein Entwicklungsland und in diesem Punkt schäme ich mich sehr für mein Land.
Doch jetzt auf einmal findet die Gehörlose im wahrsten Sinne des Wortes Gehör: Einladungen ins Fernsehen, Reportagen beim Radio und in Zeitungen nutzt sie aus, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen.
Auch heute Abend beim Spiel gegen Griechenland ist Julia Probst von Zuhause aus wieder dabei, doch wird sie sich wohl mehr auf die deutsche Mannschaft beschränken – oder versteht sie auch Griechisch?
Ich werde da sicherlich vor dem Fernseher sitzen und schauen, ob es genügend Stoff zum Ablesen gibt. Griechisch kann ich nicht, ausser Kalimera und efharisto. 😉
Zu Deutsch: „Guten Morgen!“ und „Danke!“ Nicht ohne Grund folgt ihrem Satz ein Augenzwinkern – in der Mail wie bei Twitter üblich durch die Zeichen Semikolon, Gedankenstrich und die sich schließende runde Klammer symbolisiert. Julia Probst wird uns Hörenden auch heute abend wieder erzählen, was wir nicht hören konnten.
(c) Michael Voß, www.michael-voss.de